Florenz, Spätsommer 1975. Pasolini verteidigt seine Thesen zum Konsumfaschismus. Doch seine Rede bricht aus ihren pessimistischen Bahnen aus. In seinem Essay pointiert Fabien Vitali die dialektische Kraft in Pasolinis Kulturkritik. Und liest sie neu, als Geste des Widerspruchs – als Suche nach einem anderen gesellschaftlichen Selbst.
➜"Nacht, schlaflose weiße Nacht – so das Desaster, diese Nacht, der die Dunkelheit fehlt, ohne dass das Licht sie erhellt" (Maurice Blanchot). Im Dialog mit Blanchots "Schrift des Desasters" (1980) stellt sich der israelische Philosoph Shaul Setter dem Krieg in Gaza nach dem Massaker der Hamas als einem unfassbaren Ereignis, das er als Symptom eines globalen Zusammenbruchs sieht.
➜Sefirah (סְפִירָה) ist ein Begriff aus der jüdischen Mystik. Er bezeichnet eine von zehn korrelierten Sphären – die Sefiroth (סְפִירוֹת): ein »Urbild der Schöpfung« (Gershom Scholem), welches deren tiefste Geheimnisse enthält und erfahrbar werden lässt als überwältigendes Anderes, das immer wieder neu zu begreifen ist. Der mystischen Tradition, von der sie sich ihren Namen borgt, folgt unsere Verlagsreihe im Sinne einer Denkfigur: Jede Ausgabe versteht sich als Teilfunktion eines unbestimmten, dynamischen Ganzen; jede Ausgabe schreibt sich der Herausforderung ein, den Weltzustand nicht aus den bestehenden Sprach- und Begriffsordnungen, sondern über diese hinaus, also anders zu erschließen.
MehrKern jeder Sefirah bilden kurze Texte, Textfragmente oder Bilder unterschiedlicher Interessenbereiche, die in einer paradoxalen Funktion der Abweichung und des Widerspruchs zu Gegenwartsdiskursen gelesen werden können. Integriert werden sie von kritischen Anregungen, die das antinomische Potenzial der Kerntexte erklären, aber auch vervielfachen sollen. In der kritischen Lektüre selbst wird eine Geste des Widerstands geltend gemacht. Einer immer stärker von Systemzwängen bestimmten Zeit, die alles nur noch in einer Beziehung der Koeffizienz des technischen und ökonomischen Wachstums begreifen will, stellt jede einzelne Sefirah das paradoxale Ereignis eines Anderen gegenüber: In ihr soll sich die unerwartete Vielfalt des jeweiligen vergangenen Textes wie ein unheimlicher Raum eröffnen, in dem die Leser:innen in einen Prozess der Suche verwickelt werden, der sie als freie Wesen in Anspruch nimmt.
Die Welt stellt mir hinterlistige Fragen. Meine Wörter antworten ihr offenherzig mit Fragen. (Rose Ausländer)