Marginalia 3


"Liebesantrag" in Form eines Schmähgedichts

Fabien Vitali04. September 2025

Noch sein bis heute immer wieder einseitig diskutiertes Schmähgedicht, Die KPI an die Jugend!, in dem [Pasolini] seine vermeintliche Verachtung gegenüber der bürgerlichen Papa-Söhnchen-Revolte verdichtet, birgt, wie Massimo Recalcati schrieb, eine einzigartige pars construens (Der Zeit widersprechen, S. 63). 


In einer ausgezeichneten Rekonstruktion der jahrzehntelangen Verfolgungen Pasolinis seitens der bürgerlichen Institutionen, verweist der Schriftsteller Wu Ming 1 auf die postume Beanspruchungen Pasolinis durch Rechte und Neofaschisten als der wohl perfidesten Form der Verleumdung, die letzterem je zu Teil wurde. Besonders im Fokus steht in diesem Zusammenhang der zutiefst unehrliche Umgang mit der oben zitierten Invektive, Die KPI an die Jugend! (die vollständige Fassung des Gedichts in dt. Sprache findet sich u. als PDF). 

     »Jedes Mal«, so Wu Ming, wenn in Italien »der soziale Konflikt in Erscheinung tritt und die Polizei interveniert, um letzteren zu unterdrücken, hört man […] das „infame Mantra“ über Pasolini, der [gegen die protestierenden Jugendlichen, also] auf Seiten der Polizei und der Schlagstöcke gewesen sei. Mit jenem Mantra pflegt man jede Anwendung von Gewalt seitens der Ordnungshüter zu rechtfertigen. Stockhiebe, Sprengkörper, direkt ins Gesicht geschossen, giftige Gase, die Ermordung Carlo Giulianis [während des G8-Gipfels in Genua, Anm. d. Übers.], der Einfall in die Diaz-Schule in Genua [idem], die korporative Solidarität mit den Mördern von Federico Aldrovandi [2005 von der Polizei getöteter Student aus Ferrara, idem] etc. etc. Jedes Mal werden dieselben aus dem Kontext gerissenen Phrasen über die protestierenden Papa-Söhnchen und die proletarischen Polizeibeamten geltend gemacht und gegen Arbeitssuchende, Obdachlose und andere Bevölkerungsgruppen gewendet, die sich der Zerstörung des eigenen Territoriums widersetzen«.

     Die Instrumentalisierung von Pasolinis Gedicht auf politischen Veranstaltungen sowie in Talk Shows etc. beruht auf einer freilich völlig unzureichenden Lektüre, die keiner auch nur ansatzweise textbasierten Überprüfung standhalten. Bereitschaft zur Einlassung auf Komplexität: aufgezehrt von der Gier nach unmittelbarer politischer Vernutzung. In Wirklichkeit liegt der in Pasolinis Gedicht postulierten Verteidigung der Polizei eine paradoxale Absicht zu Grunde: die wahren Bestimmungszusammenhänge von Revolte, Klasse und Macht zu Bewusstsein zu bringen. So macht der Autor seine Adressat:innen, die Jugendlichen, im gesamten zweiten Teil seines Gedichts darauf aufmerksam, dass die Revolution nicht von den Studierenden, meist aus bürgerlichem Haushalt, sondern von den Arbeitern ausgehen müsste, erstere sich somit an deren Seite stellen und institutionelle Verantwortung übernehmen müsste, um so die zusehends verbürgerlichte PCI wieder auf die richtige Seite zurückzubringen. Mit diesem Text, unglücklicherweise, und gegen den Willen des Autors, veröffentlicht unter dem Titel: »Studenten, ich hasse Euch«, macht Pasolini in Wirklichkeit einen Appell geltend, der ihn nicht in der Rolle des Widersachers, sondern vielmehr des kritischen Wegbegleiters, auf der Seite der Studierenden zeigt.

     Wie wenig die Vulgata vom Studentenfeind und Polizeifreund zur historischen Wirklichkeit der Beziehungen Pasolinis mit der 68er passt, zeigt ein wunderbarer Essay von Adriano Sofri, der die entsprechende Zeit persönlich miterlebt, ja -geprägt hatte, als Mitglied der Studentenbewegung, und ab 1969 als Protagonist der außerparlamentarischen Gruppierung Lotta Continua, mit der Pasolini auch zusammengearbeitet hatte (beispielsweise im Dokumentarfilm 12 Dicembre über die von der Rechten „inszenierten“ Attentate in Italien). In diesem 1991 für die Zeitung L’Unità veröffentlichten Essay, macht auch Sofri keinen Hehl aus seinem Überdruss über den postumen Umgang mit Pasolinis Gedicht Die KPI an die Jugend!: »Wenngleich man es kaum mehr sagen möchte, so wäre es doch wünschenswert, wenn man sich beim Zitieren von Pasolinis Poesie über die Polizisten, daran erinnern würde, wie sich die Dinge wirklich verhielten: und zwar ohne die Studierenden, die Polizisten und Pasolini in einem simplen, und überdies apokryphen Klischee einzuschließen«. Was Pasolinis Beziehung zu den Studierenden betrifft, so berichtigt Sofri, dass darin trotz der Spannungen, die tiefere Bedeutung, nicht von Paternalismus, sondern von »Brüderlichkeit« anklingt. Somit dokumentiere denn das Gedicht Die KPI an die Jugend! nicht ein Zerwürfnis, sondern vielmehr ein gleichzeitig »pädagogisches und agonales« Verhältnis, etwas zwischen »Herausforderung und dem Wunsch, anerkannt zu werden«. Oder aber, noch direkter: »ein Liebesantrag«.

(Übers. aus dem Italienischen Fabien Vitali)

"Die KPI an die Jugend!" (aus: P. P. Pasolini, "Ketzererfahrungen", Übers. Reimar Klein, Hanser, 1979)